Poornima Ramesh, die im Dezember ihre Doktorarbeit in Tübingen abgeschlossen hat, hat eine klare Vorstellung von ihrem weiteren Berufsweg: „Ich möchte spannende und herausfordernde Aufgaben mit maschinellem Lernen angehen, die sinnvoll sind und Auswirkungen auf das Leben anderer Menschen haben werden.“ Ihre Wahl ist dabei auf IDinsight gefallen, eine Organisation, die ein breites Spektrum an Daten und Evidenzinstrumenten einsetzt, um Entscheidungsträger im Entwicklungssektor zu unterstützen, und zwar in einer Vielzahl von Sektoren, darunter Landwirtschaft, Bildung, Gesundheit, Governance, Abwasserentsorgung und finanzielle Integration. Während dem Video-Telefonat spricht Poornima von häufigen Schwierigkeiten in Ländern wie Kenia und Indien, von abgelegenen Regionen, Armut, Hitze und Trockenheit, aber auch von erschwertem Zugang zu Bildung.
Wie wichtig eine gute Schulbildung ist, weiß die 27-Jährige selbst. Sie stammt aus einer gebildeten Familie – die Mutter Übersetzerin, der Vater Versicherungsbeamter. Aufgewachsen ist Poornima Ramesh in Chennai, einer 9-Millionen-Stadt im Südosten Indiens. Auch auf dem Subkontinent haben Millionen Kinder keine Schulbildung. „Die Pandemie hat die Situation noch einmal verschärft, Schulen waren wegen der Infektionsgefahr geschlossen – und haben dann nicht mehr geöffnet, als Corona vorbei war“, sagt Poornima Ramesh. Und es gibt zahllose weitere Gründe, weswegen vor allem Mädchen das Lernen verwehrt wird: zu wenig Schulen in ländlichen Gebieten, Armut der Eltern, frühe Ehen.
Mit Data Science Kindern das Lernen ermöglichen
Auf den ersten Blick haben die Bildungschancen von Kindern nichts mit Poornima Rameshs beruflicher Leidenschaft, dem Maschinellen Lernen, zu tun. Doch Maschinelles Lernen kann in vielen Bereichen angewendet werden. In einem Praktikum bei IDinsight in Indien hat sie drei Monate lang verschiedene Datensätze analysiert und errechnet, wo Kinder in ländlichen Regionen besonders gefährdet sind, von Schulbildung ausgeschlossen zu werden: Gehen beispielsweise von 200 Mädchen in einem Dorf nur 20 in die Schule? Wird eine Schule einfach nicht angenommen, obwohl sie noch Plätze zur Verfügung hätte?
„Mit Data Science kann die Hilfsorganisation die Hintergründe ermitteln und gemeinsam mit dem Staat Gegenmaßnahmen ergreifen“, sagt Poornima Ramesh. „Denn oft sind es ganz simple Gründe, die die Kinder am Schulbesuch hindern: Gibt es zum Beispiel keinen sicheren Schulweg oder ist die Schule zu weit weg? Fehlen Toiletten oder beleuchtete Straßen?“ Die Forscher*innen bei IDinsight setzen ihre Kenntnisse im Maschinellen Lernen dafür ein, diese Gründe aus den Daten herauszufiltern.
Fünf Jahre lang hat die indische Forscherin ihre Kenntnisse im Labor von Prof. Dr. Jakob Macke an der Universität Tübingen ausgebaut. Ziel des Macke-Labs ist es, wissenschaftliche Entdeckungen durch Maschinelles Lernen zu beschleunigen. Die Gruppe möchte computergestützte Methoden entwickeln, die Wissenschaftler*innen dabei helfen, ihre Daten für die Verbesserung theoretischer Modelle zu nutzen. „Zu diesem Zweck arbeiten wir mit experimentellen Forschern und Forscherinnen aus verschiedenen Disziplinen zusammen“, sagt Poornima Ramesh.
Die untersuchten Fragestellungen in Poornimas Forschung waren dabei sehr vielfältig. Sie hat zum Beispiel einen Algorithmus mitentwickelt, der aufgrund von Wellenbewegungen die Oberfläche und Struktur des Meeresbodens nachzeichnet. „Es könnte ein Puzzleteil für die Vorhersage von Tsunamis werden“, sagt sie. Denn wer den Meeresuntergrund kennt, kann das Verhalten der riesigen Wellen besser berechnen: Wo stoßen sie auf Widerstände? Wo werden sie angetrieben und verstärkt? An welchen Küsten werden die Wellen mit voller Wucht anlanden? Bei einem weiteren Projekt untersuchte Poornima Ramesh, wie das Gehirn visuelle Reize verarbeitet.
Wunsch nach Sinnhaftigkeit
In Tübingen hat Poornima Ramesh unglaublich viel gelernt, sie hat geforscht und gelehrt, ihre Doktorarbeit geschrieben. Sie ist zu der Wissenschaftlerin geworden, die sie heute ist. „Ich habe mich sehr wohl hier gefühlt und viele Freunde gefunden“, sagt sie. Und doch war da immer eine Sehnsucht, die sie nicht vollständig stillen konnte – der Wunsch nach Sinnhaftigkeit: „Obwohl mir die Arbeit als Forscherin Spaß macht, hatte ich manchmal doch das Gefühl, dass es in der Uni oft darum geht, wer die meisten Paper publiziert, wer in welcher Zeitschrift veröffentlicht.“ Verstärkt wurde die Sinnfrage in den Corona-Lockdowns, als Poornima wochenlang allein am Computer saß, dort die Auswirkungen der Pandemie in strukturschwächeren Ländern wie Indien beobachtete und sie vor allem eine Frage beschäftigte: „Hilft das, was ich hier tue, wirklich den Menschen da draußen?“ Ihr wurde immer klarer, dass sie diese Frage nicht vollständig mit einem “Ja!” beantworten konnte, zumindest nicht in der erforderlichen Tiefe.
Lange Zeit hat die junge Forscherin ihren Platz in dieser Welt gesucht: Für viele geht es nach dem Abschluss in der Wissenschaft oder in der Industrie- bzw. Technikbranche weiter. Doch Poornima konnte sich ihre Zukunft weder in der profitorientierten Wirtschaft noch im Wissenschaftsbetrieb vorstellen. Und so reifte in ihr der Entschluss, einen anderen Weg einzuschlagen. „Auch wenn ich die Unterstützung der Forschenden und der Vorgesetzten schätze, die Sicherheit einer festen Stelle in der IT-Branche, es ist nicht das, was mich reizt“, sagt Poornima Ramesh. Auch die Arbeit für große Unternehmen wie Meta oder Google, die für andere attraktiv sind, interessierte sie nicht. Es ist ihr zu wenig Reibung, zu wenig Streit für das Gute.
Vom Neckar in die Tropen
Inzwischen sind die Würfel gefallen: Ihre Zukunft liegt in Nairobi. Die Organisation IDinsight, für die sie bereits in Indien als Praktikantin die Hintergründe der fehlenden Schulbildung erforschte, betreibt auch ein Büro in Kenia. Seit März arbeitet sie dort an der Entwicklung von Modellen, mit denen die Organisation erkennen möchte, welche Projekte die höchsten Potentiale für soziale Wirksamkeit haben. Ein Optimierungsproblem, das mit maschinellem Lernen möglicherweise sehr gut bearbeitet werden könnte.
Den Schritt auf einen anderen Kontinent, in ein unbekanntes Land geht sie gerne. Denn sie liebt es, sich neuen Erfahrungen zu stellen und es sich nicht zu bequem zu machen. Nun wird sie den Weg neu ebnen, eine neue Abzweigung wählen – auch wenn das nicht leicht für sie ist. „Denn eigentlich bin ich sehr schüchtern und es fällt mir schwer, neue Freunde kennenzulernen oder mich in einem neuen Arbeitsumfeld zurecht zu finden.“ Doch genau diese Widerstände sind es, die sie reizen.
Nairobi erinnert sie sehr an Indien. „Es ist ähnlich wuselig und lebendig,“, sagt Poornima Ramesh. Nun geht sie von Tübingen in die kenianische Hauptstadt. Von 90.000 auf 4.500.000 Einwohner. Vom Neckar in die Tropen. Doch es ist ein Schritt, der sich richtig anfühlt.
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