Der Raum vibriert vor Energie: Stimmengewirr, Stuhlbeine, die über den Boden scharren, Lachen. Um die 100 Menschen füllen den Vorlesungssaal im Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen. Studierende, Promovierende, Professorinnen und Professoren. Über zwei Drittel davon sind Frauen.
Wenn sich die Doktorandin Michela Petriconi, 27, an das Event vom 11. Oktober 2024 erinnert, strahlt sie: „Es war toll. Ich habe noch nie so viele Frauen gleichzeitig auf einer Veranstaltung zum Maschinellen Lernen gesehen.“ Sie sitzt in einem der Büros im Tübingen AI Research Building, wo der Exzellenzcluster „Maschinelles Lernen“ seinen Sitz hat. Neben ihr die Doktorandin Güner Dilsad Er, 28, die hinzufügt: „Vor kurzem war ich auf einer Konferenz zu Maschinellem Lernen. Unter rund zweihundert Männern habe ich keine zehn Frauen gezählt.“
Die Zahlen aus der Arbeitswelt sind eindeutig: Lediglich 28,2 Prozent der Beschäftigten in den MINT-Fächern sind laut dem Global Gender Gap Report 2024 des Weltwirtschaftsforums Frauen. Das macht etwas mit den beiden – auch wenn sie auf ihrem eigenen wissenschaftlichen Weg bisher nicht das Gefühl hatten, wegen ihres Geschlechts diskriminiert zu werden.
Sie erinnern sich noch gut, wie es für sie zu Beginn in Tübingen gewesen ist und an ihr erstes Treffen. Es war bei einem Team-Essen. Sie kamen ins Gespräch – erzählten von ihren Sorgen und Kämpfen innerhalb der Branche. Dass sie Angst hätten, nicht genügend zu veröffentlichen. Dass sie sich manchmal wie Außenseiter fühlten. Dass sie das Gefühl hätten, die anderen wüssten mehr. Güner Dilsad Er hat Elektrotechnik in der Türkei studiert. Sie arbeitete mit Robotern. Die Italienerin Michela Petriconi kommt aus der Mathematik. Für beide war die Terminologie aus den Computerwissenschaften teilweise neu.
Am Ende des Gesprächs sagte Güner Dilsad Er zu Michela Petriconi: „Es tut mir leid, das zu sagen, aber ich bin froh, dass du die gleichen Probleme hast wie ich.“ Die beiden ahnten zwar, dass andere junge Forschende ähnliche Sorgen hatten, aber es tat ihnen gut, so offen über ihre Herausforderungen zu reden. Plötzlich fühlten sie sich nicht mehr allein. Inzwischen sind sie gute Freundinnen. Und als sie von der Idee hörten, in Tübingen eine Gemeinschaft für Frauen im Maschinellen Lernen aufzubauen, waren sie sofort begeistert.
Die einzige Frau in ihrer Forschungsgruppe
Den Einfall für die Gruppe „Tübingen Women in Machine Learning“, kurz TWiML, hatte Claire Vernade, 33 Jahre alt und Gruppenleiterin am Exzellencluster für Maschinelles Lernen, vor rund einem Jahr. „Ich hatte das Gefühl, dass viele Arbeitsgruppen hier im Gebäude unter sich blieben“, erzählt sie. Sie wisse, wie es sei, wenn man sich isoliert fühle. Sie studierte Mathe und Physik in Frankreich und interessierte sich für komplexe Probleme und deren Lösung durch Maschinelles Lernen. Als Doktorandin an der Grande École Télécom Paris war sie die einzige Frau in ihrer Forschungsgruppe. Das änderte sich nicht, als sie nach ihrem Doktorat bei Google DeepMind in London arbeitete, aber innerhalb der Firma gab es ein großes Netzwerk an Forscherinnen, die sich gegenseitig unterstützten. Das wollte sie auch für Tübingen: „Ich möchte den Forscherinnen, die im Bereich Maschinelles Lernen arbeiten, helfen, eine echte Gemeinschaft zu werden.“ Dabei hat sie nicht nur die Frauen im Exzellenzcluster im Blick, sondern auch die Forscherinnen am Universitätsklinikum, den beiden Max-Planck-Instituten, dem Tübingen AI Center und in der Tübinger Forschungseinheit des europäischen Netzwerks ELLIS.
„Es hilft, wenn man sich mit Menschen austauschen kann, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben“, sagt sie und fügt hinzu: „Das gilt aber nicht nur für Frauen, sondern auch wenn man zum Beispiel die einzige queere Person oder die einzige Person of Color in einer Forschungsgruppe ist.“
Erstes Event am Internationalen Frauentag
Über ein Posting auf dem Slack-Kanal der Forschenden im Tübingen AI Research Building suchte sie Freiwillige. Neun Doktorandinnen und Postdoktorandinnen meldeten sich. „Das Tolle daran ist, dass wir fast alle aus unterschiedlichen Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Hintergründen kommen“, erzählt Claire Vernade. Zusammen gründeten sie im Januar 2024 die Gruppe TWiML. Die Idee: Ein erstes Event am 8. März, dem Internationalen Frauentag: von Frauen, mit Frauen – für alle. „Wir wollten es anfangs so einfach wie möglich halten“, erzählt sie. Es gab vier Rednerinnen aus Tübingen und eine Podiumsdiskussion, bei der die Teilnehmenden Fragen stellen konnten. Bevor die Diskussion begann, fragten sich Michela Petriconi und Güner Dilsad Er, ob wohl genug junge Frauen aus dem Publikum Fragen stellen würden. Sie wüssten, wie es sei, wenn man zu lange über die Formulierung einer Frage nachdenke und diese dann nicht mehr passe, sagen sie. Ihrer Erfahrung nach stellen bei wissenschaftlichen Veranstaltungen erfahrenere Forschende die meisten Fragen.
Doch mit Blick auf ihr eigenes Event waren ihre Bedenken unbegründet. Die Fragen der Frauen rissen nicht ab. Mit welchen Herausforderungen musstet ihr kämpfen? Welcher Schwerpunkt ist besser für meine Karriere: Theorie oder Anwendung? Kann ich Grundlagenforschung betreiben, ohne die Anwendung im Blick zu haben? Die Fragen waren so vielfältig wie die Forscherinnen, die sie stellten. „Mir hat es sehr geholfen zu sehen, dass auch erfahrene Wissenschaftlerinnen mit Herausforderungen kämpfen müssen“, sagt Güner Dilsad Er. Michela Petriconi fügt hinzu: „In der Wissenschaft wird viel über Erfolge gesprochen. Aber was davor kommt, sagt dir niemand“. Rund 60 Teilnehmende kamen zu der ersten Veranstaltung, darunter auch Männer. „Wenn es darum geht, Frauen sichtbar zu machen, sind natürlich alle willkommen“, sagt Claire Vernade.
Vorbilder sind wichtig
Ein halbes Jahr später planten sie eine zweite Veranstaltung. Dieses Mal unter anderem mit einer Poster-Präsentation, bei der die Teilnehmerinnen ihre Arbeit präsentieren konnten. „Wenn man sieht, andere können es schaffen, dann ermutigt das einen. Es ist wichtig, Vorbilder zu haben“, so Claire Vernade. „Im Maschinellen Lernen gehen die Veröffentlichungen von Frauen aber leider oft schlicht in der Masse an Publikationen von Männern unter.“ Das kann auch dazu führen, dass Studentinnen sich letztendlich doch für andere Bereiche entscheiden – einfach, weil es ihnen an Rückenwind fehlt. Auch als Güner Dilsad Er und Michela Petriconi sich für ihre Studienfächer entschieden hatten, äußerten manche Bekannte Bedenken. Sie rieten ihnen, lieber Medizin zu studieren. Doch anders als manche andere hatten die beiden die Unterstützung ihrer Eltern. Sie schafften den Sprung in die Promotion.
Wie ihr das gelang, erzählt Güner Dilsad Er bei der TWiML-Veranstaltung am 11. Oktober. Zwei Reihen aus Stühlen bilden einen inneren und einen äußeren Kreis. Im Fünfminutentakt rücken die Personen der einen Reihe einen Platz weiter, während die anderen sitzen bleiben. Speed Dating. Das Thema: Wissenschaft, Maschinelles Lernen, aber auch: Karrierechancen und wissenschaftlicher Alltag. „Ich habe nur mit Studierenden gesprochen“, erzählt Güner Dilsad Er: „Alle wollten wissen, wie man sich am besten auf eine Promotionsstelle bewirbt. Egal ob Mann oder Frau. So wie ich früher.“ Plötzlich war Güner Dislad Er die Expertin. Sie erkannte, wie wichtig das Event für viele Frauen war. Dass andere noch stärker kämpfen müssen. Weil ihre Familien sie weniger fördern oder sie weniger privilegiert sind.
Hürden durchbrechen für die nächsten Generationen
Die nächste Veranstaltung der Tübingen Women in Machine Learning soll wieder um den Internationalen Frauentag herum stattfinden. Und Claire Vernade plant noch mehr. Langfristig will sie Coaching-Kurse für Frauen anbieten, in denen diese ihr Selbstvertrauen stärken können. Und sie will neue Mitglieder fürs Organisationsteam der Gruppe gewinnen, damit nicht zu viel an einzelnen Mitwirkenden hängen bleibt. „Als Frau hat man oft eine Doppelrolle“, sagt sie. „Wir müssen unserer Rolle als Forscherin gerecht werden und als Freiwillige versuchen Hürden zu durchbrechen, damit es die Generationen nach uns leichter haben.“ Damit ihre Vision von einem Netzwerk, das Frauen verbindet, Wirklichkeit wird. „Wir gehen Schritt für Schritt vor“, sagt Claire Vernade. „Inzwischen kennt man uns, wir sind routinierter in der Organisation.“ Dank der Unterstützung der internationalen Organisation Women in Machine Learning konnte die Tübinger Gruppe kürzlich drei Frauen je ein Reisestipendium zu einer wissenschaftlichen Konferenz in Kanada ermöglichen. Güner Dilsad Er sagt: „Inzwischen kennen wir viele Gesichter auf den Fluren. Man hat wirklich das Gefühl, da ist eine Gemeinschaft entstanden.“
Impressionen vom zweiten TWiML-Workshop im Oktober 2024:
Kommentare